Yorck Kronenberg – Schriftsteller

Yorck Kronenberg. Literatur.

Mondariz

Der Ich-Erzähler, Musikwissenschaftler aus Deutschland, bereist die Vulkaninsel Mondariz im südlichen Atlantik. Er ist auf der Suche nach den Werken des Komponisten José Diego Coimbra, der in der völligen Abgeschiedenheit und Begrenztheit der Inselwelt in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine eigene Tonsprache entwickelte. Gleichzeitig sucht er nach Erinnerungsspuren seines eigenen Lebens: In Begleitung seiner damaligen Frau hat er die Insel zehn Jahre zuvor schon einmal besucht, zu einer Zeit, als die Leichtigkeit einer jungen Liebe sich in der Lebensart der Inselbewohner, im milden Klima und der beeindruckend schönen Landschaft zu spiegeln schien.

Der Roman schildert die Tage zwischen der Ankunft im historischen Hafen der Insel bis zum Ablegen: Begegnungen mit Inselbewohnern, die sich dem Trend zur Emigration entgegenstellen; Besuche historischer Orte, hinter denen die Mythen und Volkserzählungen der kleinen Gemeinschaft ebenso sichtbar werden wie eine grausame Kolonialgeschichte. Im kollektiven Bewusstsein leben die Visionen des Schmiedes Chirinos aus der Mitte des 17. Jahrhunderts fort, der die Erschaffung der Welt als gigantische vulkanische Eruption und Mondariz als Mittelpunkt der Welt erlebte. Diese Bilder kontrastieren mit dem Gefühl, an einem verbotenen Ort zu leben, der als Folge eines gemeinschaftlichen Brudermords in den eigenen Besitz kam. Doch gerade alltägliche Begegnungen sind es, die dem Buch seinen Reiz geben: flüchtige Blicke auf der Terrasse des Cafés, die Handgriffe der Fischer, zielloses Schlendern über den Marktplatz im Licht der untergehenden Sonne. Die verschiedenen«Freundschaften», die sich im Laufe eines kurzen Aufenthaltes entwickeln und die jeweils ihren ganz eigenen Bogen beschreiben, sind Geschichten von Sehnsucht, Eifersucht, unerfüllten Wünschen und aufflammenden Hoffnungen, die sich für die Inselbewohner immer wieder auch mit der Anwesenheit des Reisenden verbinden.
«Mondariz» ist ein Sommerbuch, ein fiktives Reisebuch in einer Zeit, in der die Welt nicht zuletzt digital bis in den letzten Winkel erschlossen scheint – von fantastischer Leichtigkeit und zarter Melancholie.

Mondariz

(Beginn des Romans)
Nach einer Seefahrt von Punta del Este aus erreichten wir im Morgengrauen des fünften Tages von Osten her die Insel Mondariz. Außer dem Bootsführer und mir waren nur zwei ältere Männer an Bord, deren Funktion mir nicht klar war. Sie trugen verschlissene Arbeitskittel und hielten Schraubenschlüssel in Händen, drehten sie in den Fingern und hielten sie sich hin und wieder vor die Augen. Die meiste Zeit aber saßen sie zurückgelehnt an der Reling, die Beine hochgelegt, die Lider halb geschlossen: Die See war ruhig und ließ das gleichmäßige Rattern des Motors und die daraus entstehende eigene Bewegung schnell vergessen. Die Nächte waren warm und sternklar, die Tage weitgespannt wie das Meer. Ich las Reiseberichte von Melville und Bruce Chatwin. Immer wieder zog ich auch das stockfleckige Manuskript aus der Tasche, als müsse das veränderte Licht mir Einzelheiten der Partitur offenbaren, die mir bisher entgangen waren.Einmal, als das Papier in einer leichten Brise zu flattern begann, stellte ich mir vor, es würde zwischen meinen Fingern hindurchgleiten und vom Wind in die Höhe gehoben – die Blätter würden im Meer versinken und selbst ich, der vielleicht einzige Mensch, der sie studiert hatte, würde mich bald kaum mehr an Einzelheiten erinnern. Nur eine vage Ahnung würde bleiben, dass es den Zyklus jemals gegeben hatte: Klaviervariationen über ein eigenes Thema, verfasst von José Diego Coimbra. In der rechten oberen Ecke des Titelblattes stand das Datum: Mondariz, 8. Mai 1862. Ich umfasste das Manuskript mit einer Festigkeit, die das Papier zwischen meinen Fingern in Wellen legte. Mit gehaltenem Atem packte ich das Bündel zusammen und verstaute es in meiner Reisetasche. Erst dann lehnte ich mich zurück und überließ mich wieder dem leichten Schwanken des Bootes. Die Insel sah im Dämmerlicht vor Sonnenaufgang aus wie eine einzige düster aus dem Meer aufragende Klippe. Erst im Näherkommen zeichnete sich die Siedlung am Hafen ab, darüber der Hang, dessen Grasbewuchs jetzt freilich von aufsteigendem Dunst verhüllt war. Als wir in das kleine Hafenbecken einfuhren, wurden die Gipfel vom ersten Licht des Tages erfasst. Wenig später tauchte die Sonne aus dem Meer auf, zwei vor Anker liegende Fischerboote warfen schwankende Schatten auf die zum Marktplatz hin ansteigende Kaimauer. Wie zu unserer Begrüßung begannen im Dorf die Kirchenglocken zu läuten. Miguel wartete auf mich. Er ist älter geworden. Auf den ersten Blick bemerkte ich ihn in der Gruppe der Schaulustigen, die sich am Geländer zum Hafenbecken zusammen-gedrängt hatten, nicht einmal. Erst als er mich ansprach, verband sich das Bild des lächelnden Herrn mit meiner Erinnerung und trat noch im Moment daraus hervor wie ein klar artikuliertes Wort, das einen verblassenden Gedanken zusammenfasst. Vielleicht hättest du ihn gleich erkannt, ging mir durch den Kopf. Er wohnt noch immer in seinem Blockhaus am Waldrand, das jetzt, im strahlenden Licht des Morgens, wie aus einer anderen Sphäre auf das Dorf herabzublicken schien. »Wie lange ist es her, dass Sie auf Mondariz waren?«, fragte er und legte mir die Hand auf die Schulter. »Bald zehn Jahre«, gab ich zurück. Ich sah mich um. Fischer mit Netzen und Angeln gingen über den Marktplatz auf den Hafen zu. Das Pflaster aus sandfarbenen, ungleichmäßig geformten Steinplatten dampfte im Sonnenlicht und selbst die Fassaden der hohen Gebäude, die den Platz einfassen, schienen von der Nacht taubeschlagen zu sein. Vereinzelte Fenster waren geöffnet, aus einem Hotelzimmer im dritten Stock blickte eine junge Frau auf den Platz. Das ganze Dorf wirkte trotz der unterschiedlichen Architektur homogen, als hätte man den felsigen Untergrund Quader für Quader abgetragen und dann in Form der Häuser und Gassen neu auf-geschichtet. Eine Möwe landete auf dem Platz und pickte nach einem fallengelassenen Köder. Ein Fischer drehte sich um und trat nach ihr, beugte sich dann aber nicht einmal hinab, um das Stück Fisch aufzuheben.

© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich

«Kronenberg gelingt hier eine faszinierend geheimnisvolle Mixtur von Kunstfiktion, neuromantischer Novelle und Reiseliteratur.»

Christian Strehk: Buch des Jahres 2020, Kieler Nachrichten, 19.12.2020

«Als Schriftsteller und Konzertpianst ist [Kronenberg] eine Doppelbegabung und damit wie kein zweiter in der Lage, sowohl eine spannende Geschichte um den längst verstorbenen Komponisten zu erzählen, als auch sich musikalisch kompetent zu äußern. [...] Kronenbergs Buch bietet dem Leser eine schlitzohrige Mischung von hyperrealistischer Beschrebung und Fiktion.»

Max Nyffeler, Schweizer Musikeitung, 07.09.2020

«Ich habe 'Mondariz' mit Genuss gelesen. Wie gut, wenn ein Autor Musik beschreiben kann. Das kommt extrem selten vor.»

Alain Claude Sulzer, 05.08.2020, in einer Nachricht an den Autor

«Außergewöhnlich.»

Christine Egerszegi-Obrist, Aargauer Zeitung, 13.07.2020

«...ein hochmusikalischer Roman für einen Sommer, in dem Fernreisen unmöglich sind.»

Claudia Wahjudi, Bergedorfer Zeitung, 11.07.2020

«Kronenberg geht es nicht um die realistische Schilderung eines Charakters, sondern um das, was in Musik wie Leben meist unbemerkt mitschwingt - die ungehörten Melodien, das Unbewusste. Sein Roman ist wie die Musik gebaut, die sein Held erforschen will: Mit jedem Inselbewohner, den dieser kennenlernt, baut Stimme um Stimme den Höhepunkt auf. Im Hintergrund aber blinken, sofern das Funknetz mitspielt, die geisterhaften Nachrichten der Ex-Freundin auf - und steuern mit elegantem Crescendo das Finale an.»

Claudia Wahjudi, Frankfurter Neue Presse, 11.07.2020

«Rasch wird klar, dass hier zweierlei ausgelotet wird: der Wert musikwissenschaftlicher Forschung genauso wie die Tiefe menschlicher Gefühle. Schön gemacht, rund erzählt.»

Connie Haag, EKZ, 06.07.2020

«Wenn Sie sich wirklich darauf einlassen, entfaltet der Text seine Wirkung, und dann kann man auch nicht mehr aufhören, zu lesen. [...] Klare Empfehlung.«

Andreas Göbel, rbbKultur, 10.06.2020

«… jetzt in diesen Zeiten, in denen wir alle nicht reisen dürfen, hat mir
Ihr Buch wirklich eine Zeit lang das Fernweh genommen. Ich hatte beim
Lesen tatsächlich den Eindruck, auf Mondariz zu sein, so plastisch, so
lebhaft schildern Sie diese Insel. [...]
Sehr lesenswert.»

Ines Pasz im Interview mit Yorck Kronenberg, SWR2, 22.05.2020

«'Mondariz' ist ein im besten Sinne eigensinniger, sehr atmosphärischer Roman, der einen mit sich zieht, hinein in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Protagonisten. Und gleichzeitig hinein in den Kosmos dieser fernen, teils surreal, teils sehr echt wirkenden Insel, auf der die Menschen die gleichen Sorgen und Probleme haben wie überall auf der Welt. Eine lohnende Lektüre, die Lust auf weitere Werke des Autors macht.»

«Da sind berückend sinnliche Landschaftsbeschreibungen der Vulkaninsel Mondariz, ihrer Geheimnisse, ihrer dramatischen Geschichte. [...]
Der Leser bleibt zurück, erfüllt von der Vielschichtigkeit, Anteilnahme und den starken, manchmal verstörenden Bildern der Erzählung.»

Denise Dreyer, SR2 Buchtipp, 07.05.2020

Tage der Nacht

Roman, dtv Verlagsgesellschaft, 2015, gebunden, 256 Seiten
ISBN 978-3-423-28060-0

Auf der Bestenliste, Büchermagazin, 2/2016

Ein achtzigjähriger Literaturwissenschaftler aus Deutschland wird in seinem Haus an der Küste Mittelenglands Opfer eines Einbruchs: Drei Maskierte dringen in das Schlafzimmer ein, zwingen Anton halbnackt in einen Sessel. Hilflos muss er mit ansehen, wie seine Frau von den Unbekannten aus dem Zimmer geführt wird. Obwohl diese in der Folgezeit immer wieder betont, ihr sei nichts geschehen, wird Anton von dem Gefühl eigener Ohnmacht geplagt. Unter dem Eindruck des Traumas fühlt er sich zunehmend in die Welt seiner Kindheit zurückversetzt; während sein Vater, ein arbeitsloser Geiger, nachts BBC hörte und den Nationalsozialismus verachtete, wurde das Regime in der Schule und im Haus der Großeltern bewundert. Lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen dem Eindringen dreier Fremder in das Haus des Achtzigjährigen und jenem schicksalhaften Morgen, an dem drei Unbekannte den Vater aus der Wohnung abführten?

Ohne die Folgen selbst abschätzen zu können, hatte der Junge seinen Vater einem Nachbarn gegenüber denunziert. Getrieben von dem Gedanken, sich der Vergangenheit stellen zu müssen, dabei aber ohne die Möglichkeit, Vergebung erbitten oder selbst Gerechtigkeit einfordern zu können, verlässt Anton in einer schlaflosen Nacht das Haus: Eine Wanderung entlang der Küste gerät zu einem Ringen mit den eigenen Dämonen. In atmosphärisch dichten Bildern führt der Text auf verschiedenen ineinander verwobenen Zeitebenen das Fortwirken früher Beschädigung bis ins Alter vor. Dabei verdichten sich die teilweise antithetisch, dann wieder parallel geführten Erzählstränge zu einer Spannung, die unerbittlich ihrer Auflösung zutreibt.

Tage der Nacht

(Ausschnitt)
Erst seit dem Überfall liegt er wieder viel wach: Er ist ein alter Mann und er lebt mit seiner jungen Frau in einem Landhaus im Westen Englands. Er hat sein ganzes Berufsleben über als Literaturwissenschaftler gearbeitet, und manchmal, wenn der Wind so stark gegen die Fenster schlägt, dass er nicht schlafen kann oder wenn der Nachbarshund in seiner Hütte zu heulen beginnt wie ein Wolf, formuliert er in seinem Kopf Sätze, die sein Leben zusammenfassen; er beschreibt den Vater, der lange tot ist, seine erste Frau. Er kann in Gedanken und Bildern so schnell von einer Zeit zur anderen springen, dass er es manchmal bedauert, nicht alle Wörter gleichzeitig aufs Papier werfen zu können; seine Frau weiß wenig von ihm. Auch seine Kinder, die erwachsen sind und ihre ersten eigenen Wohnungen bezogen haben, haben von seiner Herkunft eine Vorstellung, als hätten sie Schwarzweißfotografien aus Kriegszeiten betrachtet – sie wissen um bestimmte Ereignisse, verbinden sogar Gesichter damit, doch alles von außen, weit entfernt, als hätte niemand diese Vergangenheit je erlebt. Wenn sich nachts Sätze bilden, wird die Sprache selbst durchlässig, verweist so unmittelbar auf seine Erinnerungen, dass sie auch den Kindern sein Leben vermitteln würde: wie Telepathie. Im Einschlafen schließen ihn seine Bilder dann von allen Seiten ein.
Er schreckt oft hoch. Er hat immer wieder unter Phasen der Schlaflosigkeit gelitten, die im Laufe der Jahre seltener geworden sind – mit zunehmendem Alter wurden seine Nächte still, sanfte schwarze Aussparungen, in denen aller Lärm verstummte. »Wie eine Vorbereitung auf die letzte Ruhe«, hat er zu seiner Frau einmal gesagt, die diese Äußerung wie alle seine Bemerkungen, die sich auf sein Alter beziehen, auf das Nachlassen seiner Kräfte oder die Nähe des Todes, die er immer deutlicher zu spüren meint, überging: Als könne man das Alter ungeschehen machen wie einen Geist, an den man nicht mehr glaubt. In seiner Kindheit hat er sich manchmal vorgestellt, seine Gedanken würden gelesen – von seinen Eltern?, von Gott? – und würden Spuren hinterlassen, die mit den dann erfundenen Maschinen noch Jahrhunderte später im Mauerwerk seines Zimmers nachweisbar wären.
Es ist weniger die eigene Todesangst, die noch Wochen später in ihm nachschwingt, die Angst, angegriffen zu werden oder unter dem Ansturm des eigenen rasenden Herzschlags zusammenzubrechen; es ist die Angst um seine Frau, die Angst, ihr nicht helfen zu können, das Gefühl der Ohnmacht, das ihn am meisten quält. Dann stellt er sich vor, sie zu verteidigen, zu verhindern, dass sie aus dem Schlafzimmer geführt wird,indem er den Griff des Maskierten, der ihm ein Messer anden Hals drückt, mit einem Schlag löst, aufspringt und seine Frau zur Seite reißt. Doch reicht seine Vorstellungskraft nicht dazu aus, eine Szenerie zu entwerfen, in der ausgerechnet er auch die beiden anderen Maskierten, die in der Tür stehen, zur Seite drängt und etwa die Treppe hinab bis zur Küche gelangt, um dort mit einer Hand nach einem Tranchiermesser zu greifen und mit der anderen den Hörer des Telefons abzunehmen.
Weit häufiger malt er sich aus, was er sich schon in jener Nacht ausmalte, in der er tatsächlich eben im Stuhl sitzen blieb und die Klinge des Fremden an seiner Kehle spürte, vor Angst frierend, spärlich bekleidet – manchmal schreit er auf im Schlaf. Dann streicht seine Frau ihm über den Kopf, spricht beruhigend auf ihn ein: »Es ist mir doch nichts passiert. Überhaupt ist kein Schaden entstanden, den die Versicherung nicht begleichen würde.« Sie hat den Einbrechern den Tresor geöffnet, aus dem sie ein Bündel Aktien und Bargeld nahmen, dann sind sie gegangen. Seine Frau, die schon zur Zeit ihrer ersten Begegnung die robustere der beiden war, schläft nach wie vor gut; größeren Wert als sonst legt sie nur auf das Glas Wein am Kamin und das abendliche Gespräch, bevor die beiden zu Bett gehen. Die Nachbarn haben sich einen Hund angeschafft; weil der Anton noch immer viel verreist, hat das Ehepaar sich eine Alarmanlage installieren lassen.
Wenn er zur Ruhe gekommen ist, wenn sein Herzschlag ihm nicht mehr in den Ohren dröhnt und er nach Stunden spürt, wie der Schlaf in ihm endlich zur Möglichkeit wird, dann tauchen mitunter Bilder auf, von denen er kaum mehr geglaubt hätte, dass er sie in sich trug. Eine Frau beugt sich über sein Bettchen und greift ihm nach der Nase, lächelt ihn an – noch ein Baby, erwidert er doch in diesem Moment zum ersten Mal bewusst ein Lächeln. Es ist kein Verzerren des Gesichts mehr, kein unverstandenes Aufreißen des Mundes, er gibt wissend und absichtsvoll ein Zeichen, in dem er den Gesichtsausdruck verändert. Später, noch als junger Erwachsener, hat er diesen Moment als seine erste Erinnerung bezeichnet, hat ihn geschildert und wieder geschildert, doch war das Bild ätherisch, halb nur geahnt, wurde schnell von seinen Worten verdeckt, überdeckt und endlich ganz ausgelöscht. Überhaupt scheint es ihm, dass auch wichtige Ereignisse mit jedem An-sie-Rühren, mehr noch mit jedem Benennen in Frage gestellt, verändert werden, so dass endlich von einem Gipfel der Wiederbewusstmachung zum nächsten nur noch Echos weitergetragen werden, bis hinter dem so entstehenden Gebirge die Erfahrungen selbst nicht mehr wahrnehmbar sind. Gerade jetzt aber, in einer Zeit der Schlaflosigkeit öffnen sich ihm wieder Schneisen, durch die er nicht nur zurückblicken kann, nein, sich geradezu hinübergezogen fühlt in eine Perspektive, die so weit zurückliegt, dass sie schon einem anderen Ich anzugehören schien. Insgeheim hatte er selbst kaum mehr geglaubt, dass hinter den Wörtern ein tatsächliches Ereignis steht, das sie begründet: In einer Nacht aber fühlt er selbst wieder den Blick einer Frau auf sich gerichtet,die nicht seine Mutter ist – eine Freundin vielleicht?, Frau Wegener aus der Nachbarschaft? – hört ihr geräuschhaftes Brabbeln, das Lachen, sieht ihre Hand auf sich zukommen und – lächelt.

© Copyright: dtv Verlagsgesellschaft – München 2015

«Ein genau beobachtetes und sorgfältig gebautes Buch, in dem die eindrucksvolle nächtliche Küstenlandschaft auf elegante Weise zum Spiegel eines zerklüfteten Innenlebens wird. Subtil und eindringlich zugleich erzählt: Ein Mann gerät aus der Bahn.»

Christoph Schröder, Journal Frankfurt Nr.11/2016, 09.05.2016

«Das Trauma, das Antons Generation als Kollektivtrauma erlebt und nie aufgarbeitet hat, bekommt bei Kronenberg einen überzeitlichen Charakter. [...] Den 'Glasmenschen', den Zerbrechlichen, plötzlich durch ein unerwartetes Ereignis Getroffenen, kann jeder nachvollziehen, zu jeder Zeit.»

Tilla Fuchs, SR2 KulturRadio «BücherLese», 09.03.2016

«Yorck Kronenbergs Text steht literarisch in der Tradition klassischer deutschsprachiger Literatur etwa eines Martin Walser oder Max Frisch. Einerseits geprägt von Klarheit, gelegentlich von Schroffheit - im Gegensatz dazu aber auch von immenser Poesie und Sprachgewalt.»

Michael Fuchs-Gamböck, Ammersee Kurier, 08.03.2016

«In 'Tage der Nacht' sehen wir einem verängstigten, zweifelnden Menschen dabei zu, wie er mit der Vergangenheit ringt. Einem Menschen, der sein Leben manchmal nur noch als 'Teil eines Gedankenspiels', als das 'Ergebnis einer weiter und weiter sich fortschreibenden Folge von Sätzen zwischen zwei Buchdeckeln' begreift: 'Es ist Nacht. / Zeit zu trauern.»

Philipp Idel, Berliner Zeitung, 07.03.2016

«Neben der Poesie der sprachlichen Gestalt gewinnt 'Tage der Nacht' eine inhaltlich-konzeptuelle Poesie daraus, dass es die Grenzen zwischen Kindheit und Alter verwischt. [...] So zaubert Kronenberg einen plastischen Tanz aus Ideen, aus Gefühlen und aus einer Selbstbefragung des Menschen.»

Andreas Frey, Landsberger Tagblatt, 04.03.2016

«Ehrlichkeit als eine Methode der Vergangenheitsbewältigung: Antons Geschichte macht nicht nur Mut, sondern das Buch gar zu einem bemerkenswerten Plädoyer für Aufrichtigkeit. Ein leiser Roman, aber dennoch unbedingt lesenswert.» (ckb)

DIE RHEINPFALZ, 29.02.2016

«Die Sprache, derer sich der Romancier [...] bedient, berührt durch eine Lakonie, so salzig-kühl und gleichsam zart wie eine Meeresbrise. [...] Es ist die Vielstimmigkeit eines inneren Konzertes, das unser Gemüt wieder liebesfähig macht.»

Björn Hayer, Neues Deutschland, Beilage zur Frankfurter Buchmesse 2015

«Höchst vielschichtig und ungeheuer spannend geschrieben... Einer der besten Texte, die ich in der letzten Zeit gelesen habe.»

Herbert Gnauer, Literadio, 14.10.2015

«Unter dem Kriterium Spannung wird man bei Yorck Kronenbergs Roman 'Tage der Nacht' gut bedient - und lernt einen begabten Autor kennen, der einen feinen Sinn für Zwischentöne hat.»

Antje Weber, Süddeutsche Zeitung, 13.10.2015

«Fazit: Yorck Kronenberg ist ein ruhiger, introvertierter und exzellent komponierter Roman gelungen, dessen Hauptfigur von Seite zu Seite faszinierender wird.»

Holger Ehling, BUCHKULTUR 162, Oktober/November 2015

«Yorck Kronenberg hat einen packenden Roman über Ohnmacht und Verdrängung komponiert. Er formuliert virtuos und schreibt, als würde er mit jedem einzelnen Satz darum kämpfen, seine Leser nicht zu verlieren. Um ihnen den Rest der Geschichte zu erzählen. Um nicht ohnmächtig dabei zusehen zu müssen, wie man seine Geschichte verlässt und das wichtigste Thema verpasst, das man zwar zwischen den Zeilen immer wieder zu hören glaubte, das er aber ganz langsam entwickelt, bevor er ihm im furiosen Finale der Erkenntnis freien Lauf lässt. Dieses Thema trägt den Titel 'Schuld'.»

«Ein wunderbares Buch.»

Jacquline Roussety, Radio multicult.fm., 13.09.2015

«Ein tolles und ungewöhnliches Buch, das einen nicht mehr loslässt!»

Kölner Stadt-Anzeiger, 03.09.2015

«Ein sehr komplexes, sehr inniges Buch.»

Nele Freudenberg, WDR3, 26.08.2015

«Eine nächtliche Tat, ein Haus, ein Ehepaar. Die Küste Englands, eine Nacht, ein Tag. Das sind die Zutaten für den neuen, großartigen Roman ‘Tage der Nacht’ von Yorck Kronenberg.»

Frank Keil, Buch der Woche auf Männerwege.de, 24.8.2015

«Auf äußerst einfühlsame und zugleich nüchterne Weise zeigt Kronenberg auf, dass das Wegdrängen vergangener Traumata lediglich dazu führt, dass sie irgendwann mit gewaltiger Macht über uns hereinbrechen. Meisterhaft verknüpft der Autor dabei den erschreckenden Überfall in der Gegenwart mit der Verhaftung von Antons Vater und macht die Verbindung dieser Ereignisse an der Symbolik der drei Fremden, die jeweils darin verwickelt waren, deutlich.»

«Behutsam fasst Kronenberg die Hilflosigkeit des Alten in Worte und zeigt, wie sehr die Kindheit das Leben bis ans Ende bestimmt.»

Stefan Hauk, Sabine Schwietert, boersenblatt.net, Das Portal der Buchbranche, 20.8.2015

Was war

Roman, Literaturverlag Droschl, 2012, gebunden, 168 Seiten
ISBN 978-3-85420-829-7

dtv Verlagsgesellschaft, 2016, Taschenbuch, 176 Seiten
ISBN 978-3-423-14537-4

Nach dem Tod seiner Frau wendet sich Andreas Paulhofer der eigenen Kindheit zu. Aus einer zunächst assoziativen Reihung von Erinnerungen erwächst nicht nur das sich verdichtende Bild einer ganzen Familie; da der Junge bei seiner Oma aufgewachsen ist, erfasst der Blick des Erwachsenen bald auch die Biografie der Großmutter: Seit dem zweiten Weltkrieg verwitwet und aus ihrer Heimat vertrieben, weist ihr Lebenslauf erstaunliche Parallelen zur gegenwärtigen Situation des Ich-Erzählers auf. Die Suche nach dem Bleibenden, nach Heimat und Zugehörigkeit erweist sich zunehmend als eine generationsübergreifende Fragestellung, die nicht zuletzt durch die jüngere deutsche Geschichte eine über das Private hinausgehende Bedeutung erhält.

Um Abstand zu gewinnen, reist Paulhofer nach Frankreich. Doch gerade hier greifen Vergangenheit und Gegenwart immer dichter ineinander. Nicht nur erinnern Kriegsdenkmäler allerorten an noch längst nicht überwundene Schmerzen, auch das sich anbahnende Liebesverhältnis zur jungen Isabelle steht im Zeichen der Gespenster der Vergangenheit: War nicht Paulhofer mit seiner Frau schon einmal in dem idyllisch gelegenen Dorf am Meer zu Gast? Und tönen nicht Isabelle noch immer die Warnungen im Ohr, die ihr ihre eigene Großmutter früher auf den Weg gab? «Die Deutschen haben kein Gefühl. Sie sind Maschinenmenschen, Maschinenmenschen!»

Was war

(Ausschnitt)
Es regnet. Wasser läuft in gewundenen Bahnen die Scheibe hinunter. Oma sitzt nebenan in ihrem Sessel und hustet. Ich male mit bloßem Finger an der Innenseite des Fensters die Linien des Regens nach; graue Welt. Es ist ein bisschen wie im Zug, bloß dass die Landschaft im Moment natürlich nicht an mir vorüber fährt. Aber sie verändert sich. Ich schließe ein Auge und presse mein anderes – so weit es eben geht – gegen die Scheibe. Ich spüre das Glas kalt an meiner Stirn, Wasser fließt durch mein Gesichtsfeld, so dass drüben der Baum zu tanzen beginnt: Sein Stamm rückt zur Seite, er zieht den Bauch ein, dann, vom Kopf her, schüttelt er sich schon wieder in seine Ausgangslage zurück. Ich möchte auf dem Kopf stehen, so dass das Wasser von unten her auf mich zu fließt. Das Fenster ist selbst ein großes Auge, durch das ich den Riesen anblicke und er mich. Ob auch in mir ein Baum schwankt? Ich schüttele den Kopf, kann das Rauschen der Blätter in mir aber nicht wahrnehmen. I c h  bin der Riese, denke ich übermütig.
Antonio kommt zu Besuch, wir errichten aus kleinen Bausteinen eine Burg. Toni ist unvorsichtig: Schon liegt die Burg in Trümmern. Er will sie wieder aufbauen. – «Lass!» rufe ich unnötig laut. «Das ist eine Ruine!» – «Eine was?» – «Eine Ruine», sage ich und erzähle von dem Buch mit den vielen Bildern, das mir Oma gezeigt hat, und davon, dass auf einem der Bilder eine Ruine zu sehen ist. – «Wirklich?» fragt er ungläubig. Stolz nicke ich mit dem Kopf.
Wir stürmen ins Wohnzimmer. Oma schreckt von ihrem Sessel hoch. «Nanu?» fragt sie müde, schon aber haben wir beide sie erreicht, Toni umklammert die Armlehne, während ich an Omas Bein rüttle. – «Frau Paulhofer!» ruft er, «Oma, Oma!» rufe ich. Kurzzeitig steht sie halb, dann fällt sie wieder in den Sessel zurück. Ihre Lippen werden dünn vor Schmerz. «Ach die alten Knochen», murmelt sie ärgerlich, schlägt sich dann auf den Schenkel und wird schon von ihrem eigenen Lachen mitgerissen. Auch wir beiden Kinder lachen.
«Das Buch», rufe ich, «Oma, das Buch mit der Ruine drin...» – Oma überlegt einen Moment. Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht sie vom Sessel auf und greift nach ihrem Stock. Wir Jungen treten etwas zurück und gehen in gebührendem Abstand hinter ihr her. Es geht nicht sehr schnell, obwohl wir doch nur vom Sessel zum Schrank gehen.
Dann zieht sie das Buch hervor und setzt sich an den Tisch, der an der Tür steht. «Worum gehts denn nun eigentlich?»
«Andi hat von einem Riehne gesprochen oder so ähnlich», sagt Toni. «Is doch Quatsch, oder?– «Ru-i-ne!» korrigiere ich, «Ru-i-ne, Toni, Ruine...» – Toni sieht meine Oma in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verärgerung an. – «Ruine?» murmelt sie in offenkundiger Verunsicherung. «Ruine, hm? Na mal sehen.» Und sie schlägt das Buch auf.
Ich sitze allein am Fenster. Ruine, denke ich. Hinter mir auf dem Fußboden die Überreste jener Burg, die wir gebaut haben. Ich stelle mir vor, die orangeroten Reihenhäuser würden zusammenstürzen, nicht plötzlich und mit Getöse, sondern wie im Traum. Ich blicke mich im Zimmer um und sehe lauter Dinge, deren Namen mir bekannt sind. Außerdem kenne ich die Bezeichnung ‘Ruine’.
Als Oma ins Zimmer kommt, frage ich sie, ob es eigentlich für alle Dinge Namen gibt. Sie überlegt eine Weile und sagt dann: «Für die meisten Dinge. Für alles, was man anfassen kann.»
Später kommt Toni zurück. Wir haben genug von unserer Ruine und beschließen, etwas Neues aufzubauen. Eine Burg? Ich schüttele den Kopf. «Eine Kuko», sage ich. Das klingt gut und ist wirklich etwas ganz Neues. Wenn wir neue Namen erfinden, gibt es neue Dinge, denke ich. Es regnet und von draußen schaut der Riese zu uns herein.
«Kuko», murmelt Toni und sieht mich mißtrauisch an. Er fragt aber nicht weiter nach.

© Copyright: Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2012


«Selten habe ich so ein sanftes, sorgsames und melancholisches Buch gelesen. [...] Kronenbergs Stil macht, dass ich mich danach sehne, mein eigenes
Vergangenes so liebevoll betrachten zu können. Zurückblicken, ohne analytisch zu sein, wahrnehmen, fühlen, sein lassen, einfach erzählen wie es war. Der Titel ist perfekt gewählt.«

«Eine faszinierende Lektüre

Herbert Gnauer, Literadio, 12.10.2012

«Der Autor (und Musiker) Yorck Kronenberg hat einen Roman geschaffen im Stile des Magischen Realismus: Aus realistischen Umständen wachsen phantastische Momente empor, die hier meist in Träume aufgelöst werden.»

Iris Kersten, Librithek

«'Was war' ist eines jener Bücher, die uns noch einmal damit konfrontieren, wie prägend und stärkend am Ende die Menschen sein können, die unaufgefordert in unser Leben treten.»

Frank Keil, Switchboard

«Nicht zuletzt die Musikalität der Sprache macht Kronenbergs Roman zu einem Lesevergnügen.»

EKZ

Ex voto

«Eine Entführung zu schildern wäre das eine gewesen: die Verschleppung eines freiwilligen Arztes und Menschenfreundes aus Deutschland durch aufständische Einheimische im globalen Bürgerkriegsgebiet, irgendwo zwischen Bosnien, Irak und Afghanistan. Yorck Kronenbergs Erzählung 'Ex voto' jedoch ist eine Entführung: Mitten hinein in seine Phantasmagorie von Macht und Ohnmacht, Wissen und Glauben, Fernsehnachricht und Fiktion verschleppt er die Leser, macht sie zu Zeugen und Mitwissern unaufklärbarer Geheimnisse und kultischer Handlungen im Niemandsland zwischen Archaismus und Postmoderne. 

Vor dem Hintergrund einer ebenso großartigen wie unmenschlichen, bald lebensbedrohlichen, bald Erlösung verheißenden, aber immer wieder großartig geschilderten Naturkulisse entspinnt sich ein virtuoses Spiel mit Projektionen und Reflexen, dessen Sinn sich erst erschließt, wenn der Leser als der Entführte realisiert, dass er selber es ist, der dieses Spiel steuert und vorantreibt. Wo Kafkas Antiheld 'Vor dem Gesetz' bis zum Tode verharrte, gelingt Kronenbergs Entführtem, kaum zum Anführer der eigenen Entführer aufgerückt, tatsächlich die Flucht - wenn auch nur, um am Ende ganz bei sich zu bleiben.»

Joachim Helfer

Ex voto

I (Ankunft)
Sie gaben ihm Papier und Bleistift. Er solle aber nicht über die vergangenen Tage schreiben, zischte der Übersetzer ihm zu. Er selbst werde die Aufzeichnungen stichprobenartig überprüfen. – “Darf ich das erwähnen?” fragte der Gefangene. Der Übersetzer zuckte mit den Schultern.

Wir haben ein kleines Dorf erreicht, das auf einer Anhöhe liegt: Zusammengedrängte Steinhäuser, durch deren Holztüren der Wind zieht, Fußwege und dürre Wiesen, auf denen Schafe und Ziegen weiden. Es war Nachmittag, die Sonne stand tief, es wurde schon frostig. Im Dunkel der Fensterhöhlen zeichneten sich Gesichter ab: man beobachtete uns. Ein alter Mann mit Stoppelbart trat auf die Veranda seines Hauses und hob die Hand. Unser Anführer ging auf ihn zu, stieg die knarrenden Stufen hinauf. Der Mann stellte sich vor die Haustür, als wolle er sie verteidigen. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Am Ende des Wortwechsels stampfte der Anführer mit dem Fuß auf, was eher herrisch als verärgert wirkte. – „Was hat das zu bedeuten?” fragte ich den Übersetzer. – „Sie haben sich geeinigt”, lautete die Antwort.

Wir durchquerten die Siedlung und errichteten unsere Zelte. Ich war sehr müde, und als der Übersetzer mir zunickte, packte ich meine Decken aus und legte mich auf den Boden. Im hinteren Eck hatten sich einige der älteren Männer zusammengesetzt und sprachen. Der Übersetzer brachte von draußen einen dampfenden Kessel mit Tee und ein paar Becher. Er schenkte seinen Kameraden ein. Dann setzte er sich auf einen kleinen Hocker neben mich. „Nennen Sie mich Harry”, sagte er. „Das ist ein hübscher Name und Sie können ihn aussprechen.” – Ich nickte mit dem Kopf. Im Halbdunkel konnte ich sein Gesicht nur schemenhaft erkennen.

„Sie sind sehr wichtig für uns”, sagte der Übersetzer, „Sie sind vielleicht der wichtigste Mann in unserm Trupp.” – „Wieso?” fragte ich erstaunt. – „Die Vorsehung hat Sie zu uns geschickt. Jedes Wort, das Sie schreiben, werde ich in unsere Sprache übertragen und der Priester wird es deuten. Sie kennen uns noch nicht.” – „Wenn ich Sie aber hasse?” – Der Mann lachte leise. „Sie sind ein Werkzeug. Sie können dagegen ankämpfen, wenn Sie das wollen, und vielleicht werden Sie uns nie verstehen. Beschreiben Sie Ihr Leben und Ihre Gedanken. Wir vertrauen Ihnen. Durch Sie kommt die Wahrheit.” Er legte mir zwei Finger auf die Lippen. „Fragen Sie nicht weiter. Es ist alles, wie es sein muss. Sind Sie durstig?”

Ich richtete mich auf meinem Lager auf und nahm den Becher entgegen. Meine Hände zitterten, ich fror. Der Tee roch aromatisch und etwas scharf, auf der Oberfläche schwammen Pflanzenteile. „Glauben Sie nicht, dass man uns finden wird?” fragte ich leise und beugte den Kopf in seine Richtung; dabei hätte mich doch ohnehin keiner der übrigen verstehen können. Einen Moment lang fürchtete ich, er würde wieder wütend werden. „Nein”, sagte er dann aber nur und wieder war sein leises Kichern zu hören.

Vielleicht wollen sie Geld erpressen, ich weiß es nicht. Womöglich haben sie ihre Forderungen schon gestellt. Ob meine Familie Nachricht erhalten hat? Ob sie überhaupt ahnen, was mir geschehen ist? „Was ist mit meinen Begleitern?” fragte ich. – „Sie haben sich einem andern Trupp angeschlossen.” – „Sind sie am Leben?” – „Ich glaube es. Sie haben die Probe nicht bestanden. Sie sind nach Süden gezogen.”

Der Tee tat mir gut. War es der Dampf oder die plötzliche Erkenntnis, dass ich sprechen konnte, die Tränen in mir aufsteigen ließ? Ich rollte mich in meine Decken und schloss die Augen.

© Copyright: Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2010

«Alles, was Sie tun, ist ein Schöpfungsakt’, erklärt der Übersetzer dem Arzt. In seinem Roman setzt Yorck Kronenberg die ganze Dramatik dieses Satzes in ein vielstimmiges literarisches Libretto um. ‘Ex voto’ ist eine Beschwörung der Schöpferkraft, auch und gerade der Sprache. Um etwas Neues zu sagen, muss man das Fremde hineinlassen. In faszinierenden und zugleich bedrohlichen Passagen nimmt der Autor den Leser mit ins Fremde und Ungewisse. Er lässt sie in seinen märchenhaften Szenen, frei nach Büchners ‘Lenz‘, quasi auf dem Kopf spazieren. Dieses Kunststück über dem Abgrund des Himmels ist nur etwas für absolut schwindelfreie Leser.»

«In derart plastischer Sprache beschreibt Kronenberg die Situation von Robert Sieburg, einem deutschen Arzt, der in der Fremde zur Geisel wird [...]. In der exzellent erzählten Darstellung Kronenbergs werden Einsamkeit, Verunsicherung und Angst spürbar, die Atmosphäre des permantenten Geheimnisses unmittelbar.»

Franziska Reif, KREUZER zur Leipziger Buchmesse 2011

«Kronenberg spielt in seinem Roman geschickt mit der Angst vor dem Zerfall unserer modernen Gesellschaft. … Kronenberg legt einen Roman vor, der zwar verstörend ist, weil er die Grundlagen unserer Zivilisation hinterfragt, dabei aber trotz allem niemals konstruiert wirkt, das ist das große Verdienst des Autors.»

«'Ex voto’ ist ein oft beklemmendes, ganz und gar eigenwilliges Buch.»

Verena Fischer-Zernin, Hamburger Abendblatt, 29.3.2011

«Yorck Kronenbergs Roman greift also ein Thema auf, das in der aktuellen politischen Berichterstattung höchste Brisanz hat. Freilich entkleidet er es aller aktuellen Bezüge. ‘Ex voto’ ist kein Tatsachenroman über die Al Kaida (oder vergleichbare Erscheinungen), sondern eine literarisch ambitionierte, sehr düstere Etüde über das alte Thema ‘Konfrontation mit dem Fremden’.»

Hermann Schlösser, Wiener Zeitung, 12.8.2011

Welt unter

Edition Nautilus, 2002, Hardcover, 128 Seiten
ISBN 3-89401-387-7

Eines Morgens verläßt der Ich-Erzähler des Romans seine Wohnung, um zur Arbeit zu gehen - und die Stadt, in der er sein bisheriges Leben verbracht hat, ist menschenleer. Alles Leben ist aus Häusern und Straßen zurückgewichen: Er ist allein.
Was das Leben des Helden bisher strukturierte, zerfällt; ohne soziale Bindungen, ohne Beruf, ohne die Möglichkeit zur Kommunikation irrt der Protagonist durch eine fremd gewordene Stadt. Kronenberg beschreibt, welchen Triebkräften und Impulsen ein vereinsamter Mensch ausgesetzt ist, welche Ideale er allein aus sich selbst heraus zu schaffen versucht.

Zunehmend von Figuren umstellt, die seine Phantasie ihm erschaffen hat, trifft der Held schließlich tatsächlich auf ein Gegenüber, eine Frau. Zwischen Mißtrauen und der Sehnsucht nach Gemeinschaft hin- und hergerissen, versuchen beide, sich einander mitzuteilen. Doch als am nächsten Morgen die Stadt wieder lärm- und menschenerfüllt ist wie ehedem, gehen sie wortlos auseinander.
Daß am Ende suggeriert wird, ein jeder Bewohner dieser Stadt habe ähnliches erlebt wie der Held, macht dieses Romandebüt zu einer modernen Parabel.

Welt unter

(Auszug)
In der Nachbarschaft befindet sich ein kleiner Buchladen, auch hier schlug ich zunächst mit der Hand gegen die Tür, doch wurde mir nicht geöffnet. Hatte sich der Inhaber des Ladens in seinem Geschäft verschanzt? Waren die Einwohner der Stadt in gemeinsamer Bewegung vor einer Bedrohung von Straßen und Plätzen in Häuser und Keller zurückgewichen? Mit einem Fußtritt zertrümmerte ich die große Glasscheibe des Schaufensters, schlug dann mit dem Ellbogen übriggebliebene Kanten und Splitter aus meinem Weg und stieg über die Auslage ins Innere des Raumes. Nah der Tür sah ich einen Ständer mit Zeitungen, ich ging darauf zu, drehte ihn im Kreis und überflog die Schlagzeilen der Titelseiten. Der Kanzler hatte sich vor dem Parlament zur Frage der Zuwanderung geäußert, ein Schauspieler war gestorben, Aktienkurse zeigten sich erholt. Ich zog eine Zeitung hervor und schlug sie auf, blätterte hastig darin herum, die Buchstaben flirrten mir vor Augen, meine Hände zitterten, doch konnte ich keine Meldung entdecken, die mir die Katastrophe vorherzusagen schien. Warum aber hatten sich alle Menschen vor mir versteckt? - In plötzlichem Zorn warf ich die Zeitungen zu Boden, trat mit Füßen danach, hielt mir den Kopf, drehte mich im Kreis. - ”Hallo!” rief ich, ”ist denn hier niemand? Hier -, verdammt, ich -, ich will ein Buch kaufen!” Da mir niemand antwortete, ging ich zur Kasse hinüber, hob sie von der Tischplatte auf und warf sie mit Wucht gegen ein Bücherregal. Der Schlag mußte bis in den Keller und nach oben bis unters Dach zu hören gewesen sein, das Gerät lag zerbeult am Boden, einige Teile waren gesplittert, ”ich nehme jetzt alles Geld, ich lasse nichts hier, hört ihr mich, ihr Feiglinge!” In Raserei trat ich wieder und wieder mit dem Fuß nach der Kasse, hob sie erneut auf und warf sie noch einmal, womöglich noch heftiger als zuvor, gegen die Bücherwand. Jetzt war die Kasse schon ganz zertrümmert, Bücher lagen am Boden und Münzen und Scheine, ich hob eine Handvoll Geld auf und schleuderte es durch das zertrümmerte Fenster auf die Straße. ”Jetzt liegt es draußen, euer Geld, die Schulkinder prügeln sich schon darum”, und griff immer noch mehr Scheine und mehr Münzen und mehr Schecks vom Boden auf und warf alles ohne Besinnung hinaus. ”Na, hört ihr jetzt, wie es klimpert, ihr Feiglinge! Ich lasse nichts übrig, die Bettler freuen sich darüber, sie lachen über euch, hoho, sie lachen, und ich lache auch, ja, nehmt nur, ihr Bettler, das Geld gehört allen, das Privateigentum ist abgeschafft, keine Angst”, rief ich, ”keine Angst!, die Polizei wird euch nicht bestrafen, ich übernehme für alles die Verantwortung”, und bückte mich immer wieder hinab, um noch einmal und noch einmal Geld zusammenzuraffen und in hohem Bogen fortzuschmeißen. Schließlich hob ich die ganze Kasse noch einmal auf, stemmte sie auf meine Schulter und stieß dann das ganze zerbeulte Ding durch das Fensterloch ins Freie. ”Hoho!” rief ich, ”das habt ihr nun von eurer Feigheit, ihr habt es ja gar nicht anders verdient, Schwächlinge!”, und spürte in diesem Moment so heftig den Drang zu Weinen in mir aufsteigen, daß es mich schüttelte. Halb noch lachend, stürzten mir doch bereits Tränen aus den Augen, ich sank hinab, hockte am Boden und preßte die Hände gegen mein Gesicht in meinem Taumel. Wie allein ich bin, wie verlassen, warum antwortet ihr mir nicht?

© Copyright: Edition Nautilus ller

«Yorck Kronenberg ist mit seinem Erstling ein durchaus reizvolles, anspielungsreiches Nocturno gelungen.»

Neue Zürcher Zeitung

«Möglicherweise war es die rigorose Anti-Coolness des Helden, welche die meisten professionellen Leser des Manuskripts verstört hat. Die Lektoren der großen Verlage haben ‘Welt unter’ nämlich abgelehnt. Kronenberg glaubte, sein Buch auch ohne einen Hinweis auf seine musikalische Karriere verkaufen zu können. Ein Irrtum in dreifacher Hinsicht. Abgesehen davon, daß Kronenbergs Interpretationen am Klavier und seine Schreibkunst eine schöpferische Einheit bilden und daß diese Doppelbegabung eigentlich jeden Marketingstrategen überzeugen müßte, wird kaum ein Jungschreiber, der mit irgendwelchen Stipendien und Preisen gefördert wird, auf solch ein schriftstellerisches Potential zurückgreifen können, das sich irgendwo im Verborgenen entwickelt hat.»

Carsten Otte: «Der Schriftstellerpianist», ein Radio-Feature, gesendet von
verschiedenen ARD-Rundfunkanstalten; als Printrezension in konkret 8/2002

«'Welt unter’ ist eine reizvolle und abwechslungsreiche Konstruktion … Yorck Kronenbergs literarische Fantasie gibt dem Leser Futter.»

Georg Waßmuth, SWR2 «Kultur im Land»

«Mit erschreckender psychologischer Genauigkeit beschreibt der Autor, welchen Seelenqualen ein vereinsamter Mensch ausgesetzt ist, wie er verzweifelt versucht, doch noch irgendwelche Ideale aufrecht zu erhalten und sich vor den aufkommenden Wahnvorstellungen zu schützen.»

jazzzeit

«Yorck Kronenberg behandelt das Einsamsein in der Großstadt auf bedrückende, neuartige Weise.»

KREUZER spezial 03/02 zur Leipziger Buchmesse

«In ‘Welt unter’ gelingt es Kronenberg, dem plötzlichen Schweigen der Welt seines Helden Gedankenspiele abzugewinnen, die weder allgemein noch persönlich, die logisch ‘richtig’ und trotzdem inhaltlich ‘falsch’ und vor allem dicht getextet und ehrlich sind.»

style & The FAMILYTUNES

«Eine runde Sache ist dieses Buch nicht. Eher ein Wechselbad von Gefühlen und existenziellen Fragen, die keine Läuterung, keine Antworten zulassen. Man kann dem Autor nicht zustimmen und ihn nicht ablehnen. Wenn einen das Buch und seine Thematik etwas angeht, gibt die durchaus etwas sperrige Lektüre aber eine Menge zu denken – und zu überdenken.»

NDR 3, Divertimento

«Yorck Kronenberg ist mit seinem Debütroman ein fesselndes Stück Literatur gelungen … Macht Lust auf mehr.»

Punkmagazin Plastic Bomb

«Aber dieser Roman – das merkt man gleich – ist weder Science Fiction noch Fantasy … Ein Psychogramm der Einsamkeit … Sich in den Schreibenden hinzudenken, gibt der Lektüre zusätzlichen Reiz. Man hört ja auch seine junge Stimme – der Ton ist ungekünstelt, echt.»

Neues Deutschland

Kurzgeschichte «Careering»

in:
Punk Stories, Verlag LangenMüller, 2011
herausgegeben von Arne Rautenberg, Alexander Müller und Thomas Kraft
ISBN 978-3-7844-3258-8

Kurzgeschichte «Miss Universe»

in:
Die Schönheitskönigin Sarah Rotblatt fährt an einer Tankstelle vor 
24. Würth-Literaturpreis
Vorwort von Christoph Ransmayr
herausgegeben von Dorothee Kimmich und Philipp Alexander Ostrowicz; unter Mitarbeit von Anja-Simone Michalski
Swiridoff Verlag, 2013
ISBN 978-3-89929-277-0

«Wenn draußen ein Auto vorbeifuhr»

Kurzgeschichte
Ahrenshooper Seiten, 2009
ISBN 978-3-934216-52-5

Erstes Kapitel des Romans «Ex voto»

 in:
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 181, 2007
SH-Verlag · ISSN 0038-8475

Erzählung «Gegenlicht»

 in:
Wieder vereinigt. Neue deutsche Liebesgeschichten
Verlag Klaus Wagenbach, 2005
ISBN 3-8031-2515-4

Yorck Kronenberg. Porträts und Rezensionen.

Der Schriftstellerpianist von Carsten Otte (PDF)
KONKRET 6/2002

Erlkönig/Prototypes

Porträt/Interview
Dumont, 2009
ISBN 3-8321-9251-4

Es lebe die Einsamkeit!

Eine vergleichende Analyse der Darstellung von Alleinsein, Einsamkeit und sozialer Isolation literarischer Figuren in ausgewählten Texten.
Autorin: Claudia Stoiser
Grin Verlag, 2013
ISDN 3-6561-2880-4

Letzte Menschen

Postapokalyptische Narrative und Identitäten in der neueren Literatur nach 1945.
Autorin: Judith Schossböck
Projekt, Bochum, 2012
ISDN 3-8973-3261-2